Neurodiversität in der Bildungstechnologie Wie EdTech-Entwickler für Inklusion und Awareness sorgen

Von Louisa Rosenheck* 6 min Lesedauer

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Aller Erkenntnisse zur Neurodiversität zum Trotz sind Klassenräume, Lehrpläne und digitale Lern-Tools noch immer vornehmlich auf neurotypische Lernende zugeschnitten. Vorhang auf für die Entwicklung inklusiver EdTech, sprich Education Technology.

Moderne EdTech-Entwickler und -Designer sollten eine Umgebung schaffen, in der sich alle Lernenden wohlfühlen und einen barrierefreien Zugang zu Wissensinhalten haben.
Moderne EdTech-Entwickler und -Designer sollten eine Umgebung schaffen, in der sich alle Lernenden wohlfühlen und einen barrierefreien Zugang zu Wissensinhalten haben.
(Bild: RosZie / Pixabay)

Auch wenn sich Gehirne äußerlich kaum voneinander unterscheiden, funktionieren sie doch bei jedem Menschen anders. Ungeachtet von Geschlecht, Alter und Erfahrungen lernen und verarbeiten Menschen Informationen auf unterschiedlichste Weise. Diese Tatsache beschreiben wir heute als Neurodiversität.

Etwa 15 bis 20 Prozent der Weltbevölkerung weisen eine Form von Neurodivergenz wie ADHS, Autismus, Legasthenie oder Hochbegabung auf; in Deutschland betrifft das jede fünfte Person. Im Unterschied zu ihren Mitmenschen nehmen sie ihre Umwelt anders wahr und verarbeiten Informationen anders. Manchmal geht damit auch eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Reizen wie Geräuschen oder Gerüchen einher.

Neurodiversität ist also ein normales Phänomen in unserer Gesellschaft. Das gilt auch für den Klassenraum: Lehrkräfte vermitteln Wissen an eine von Natur aus neurodiverse Gruppe, in der jedes Individuum die Inhalte auf unterschiedlichste Weise aufnimmt. Allerdings können neuroatypische Eigenschaften die Aufmerksamkeit, das Lernverhalten und die Kommunikation beeinflussen.

Konventionelle Strukturen schränken inklusive Ansätze ein

Vor diesem Hintergrund müssten Schulen und andere Lernumgebungen – einschließlich der Vermittlungsmethoden sowie der Lehrmittel – diese natürliche Vielfalt berücksichtigen, damit jeder Schüler die Chance hat, erfolgreich am Unterricht teilzunehmen. Die Realität sieht allerdings anders aus.

Der Schulalltag folgt nach wie vor einer traditionellen One-size-fits-all-Struktur. Von den Lernenden wird erwartet, dass sie dieselben Aufgaben auf dieselbe Weise lösen und sich dadurch das gleiche Wissen aneignen. Neurodiversen Schülerinnen und Schülernn, die durch dieses Raster fallen, wird dadurch der Zugang zum Lernen verwehrt.

Digitale Lern-Tools haben das Potenzial, eine Brücke zu schlagen und dadurch eine flexible und sinnstiftende Lernerfahrung für alle Lernenden zu schaffen. Trotzdem verharren viele EdTech-Lösungen auf steifen Formaten, die sich in der Vergangenheit zwar bewährt haben, aber nicht für eine neurodiverse Wissensvermittlung gemacht sind. Das muss sich ändern.

Inklusion ist ein Mindset-Shift

Eine inklusive digitale Lernerfahrung entsteht nicht aus dem Nichts. Es gehört mehr dazu als barrierefreie User Interfaces oder das Ändern von Farben und Schriftarten. Inklusion-by-Design muss zum festen Bestandteil des gesamten Design- und Entwicklungsprozesses werden – und zwar von der frühen Konzipierung bis hin zum Launch.

Das funktioniert allerdings erst, wenn Entwickler und Entwicklerinnen – und die Produktionshäuser dahinter – vage Vermutungen, einseitige Perspektiven und kritischen Bias aufbrechen. Inklusive Design-Methoden helfen dabei, Lern-Tools zu entwickeln, die neurodiverse Lern- und Denkweisen unterstützen.

Die dafür notwendige Basis besteht aus einem umfassenden Verständnis von Neurodiversität sowie der Unterstützung durch inklusive Design-Frameworks, die einen Einblick in die verschiedenen Arten von Lernerfahrungen geben. So verfolgen die Universal Design for Learning (UDL) Guidelines mit den drei Prinzipien „Engagement“, „Representation“ und „Action & Expression“ zum Beispiel das Ziel, Wissensinhalte noch einfacher zugänglich zu machen.

Damit Nutzer selbstbestimmt entscheiden können, wie sie mit Inhalten interagieren und sich ausdrücken möchten, müssen Entwickler verschiedene Formate und Features bereitstellen. Ein Lern-Tool etwa, das Schülern erlaubt, ihre Antworten aufzuschreiben, zu malen oder via Speech-to-Text-Funktion aufzunehmen, fördert nicht nur die erfolgreiche Teilnahme am Schulunterricht, sondern auch das Zugehörigkeitsgefühl.

Wichtig ist, dass die Design-Prinzipien, denen man im Laufe der Entwicklung folgen möchte, klar definiert und von Anfang an mit dem gesamten Team kommuniziert werden, damit jeder Bereich das gleiche Ziel vor Augen hat. Außerdem sollten alle Design-Entscheidungen und Konzepte regelmäßig im Self-Check-Verfahren mit den Prinzipien abgeglichen werden, um sicherzustellen, dass man auf dem richtigen Weg ist.

Den Entwicklungsprozess für Repräsentation öffnen

Doch ein Design-Framework allein reicht nicht aus. Um eine wirklich inklusive EdTech-Lösung zu entwickeln, können Produktionsstudios nicht einfach eine Architektur mit – vermeintlich – inklusiven Lernmechaniken hochziehen, die Software launchen und darauf hoffen, dass die Zielgruppe damit zurechtkommt. Wenn Wissen und Erfahrungen fehlen, kann auch der talentierteste und rücksichtsvollste Entwickler kein inklusives Produkt erschaffen. Und wer bietet sich besser für die Entwicklung neurodiversitätsfreundlicher EdTech an als neuroatypische Ansprechpartner?

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Auf der einen Seite ist es immer hilfreich, Team-Kollegen zu haben, die ihre eigenen Erfahrungen und ihr Wissen in den Entwicklungsprozess einfließen lassen können. Auf der anderen Seite bietet sich ein Co-Design-Ansatz an. Dabei geht es darum, Personen aus der Zielgruppe – und damit auch die eigentlichen Endnutzer – direkt in das Team einzubinden, sie als Experten zu positionieren und so die Stimme marginalisierter Lernender in der EdTech-Branche zu stärken.

Alternativ können Design- und Entwickler-Teams auch eine Task Force zusammenstellen, deren Mitglieder sich vorrangig mit inklusiven Design-Methoden und -Elementen auseinandersetzen und über Interviews Erfahrungsberichte, Meinungen und neue Ideen sammeln. So wird die Arbeit der Produktionshäuser dank höherer Repräsentation nicht nur um neue Perspektiven bereichert. Sie schafft auch Awareness für das Thema allgemein.

Von der Theorie zur Praxis: Rapid Prototyping und Playtesting

Rapid Prototyping ist gang und gäbe in der Software-Entwicklung und eine gute Methode, in kürzester Zeit mehrere Konzepte und Variationen zu entwickeln und simple Prototypen früh zu testen. Ziel ist es, herauszufinden, welche Teile der Ideen weiterverfolgt, beibehalten, geändert und verfeinert werden sollten.

Um zu prüfen, ob der inklusive Mehrwert gegeben ist, sollten Design- und Entwickler-Teams sogar noch einen Schritt weitergehen. Anstatt das Playtesting der vielversprechendsten Prototypen intern durchzuführen, zieht man neuroatypische Tester heran. Anhand ihres Feedbacks lässt sich ablesen, ob das Team im Sinne einer inklusiven Lernerfahrung arbeitet.

Doch welche Design-Elemente und Mechaniken muss ein Lern-Tool konkret beinhalten? Diese Frage lässt sich ad hoc kaum beantworten – schließlich gibt es mehr als nur einen Weg, eine inklusive Lernerfahrung zu gestalten. Die folgenden Beispiele geben daher nur einen kleinen Ein- und Überblick:

Beispiel 1: Klassisches Textfeld

Entwickeln Teams ein simples Frage-Antwort-Spiel, sollten sie bedenken, dass ein inklusives Design über den Text-Input hinausgeht. Denn es gibt Schüler, die mithilfe von Zeichnungen oder Sprachaufnahmen besser kommunizieren können. Dementsprechend braucht es Funktionen, die solche Interaktionen ermöglichen.

Beispiel 2: Zeitlimit

Ganz nach dem Motto „der Schnellste gewinnt“ bietet sich das Zeitlimit in einem kompetitiven Szenario ideal an. Es gibt allerdings Schüler, die unter Druck Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren. So könnte man den Timer einfach entfernen. Doch damit würde man auch Motivator und Spaßelement abschaffen, was eine inklusivere Alternative notwendig macht.

Beispiel 3: Reizüberflutung

Neuroatypische Schüler können unterschiedlich auf bestimmte Sinnesreize wie laute Geräusche, helle Lichter oder überladene visuelle Stimuli reagieren. Das kann zu Stress, Angst und Konzentrationsstörungen führen. Daher empfiehlt es sich, ausreichend Optionen zu programmieren, mit denen Lernende die Einflüsse eigenständig regulieren können – zum Beispiel, um visuelle Unordnung aufzulösen oder verschiedene Geräusche auszublenden.

Fazit

Moderne EdTech-Entwickler und -Designer sollten nicht nur das Ziel haben, ein Tool für die bloße Wissensvermittlung zu bauen. Vielmehr sollte es darum gehen, eine Umgebung zu schaffen, in der sich wirklich alle Lernenden wohlfühlen und einen barrierefreien Zugang zu Wissensinhalten haben. Bei dieser Mission können moderne Technologien, inklusive Design-Frameworks sowie der Austausch mit neurodivergenten Personen dabei helfen, inklusive Lernerfahrungen zu gestalten, die Awareness zum Thema Neurodivergenz zu steigern und den Weg für mehr Repräsentation in der Branche zu ebnen.

* Über die Autorin
Louisa Rosenheck ist Director of Pedagogy bei Kahoot!. Die erfahrende EdTech-Designerin und -Wissenschaftlerin ist dafür verantwortlich, die pädagogischen Ansätze der verschiedenen Kahoot!-Produkte und -Services aufeinander abzustimmen. Zudem ist sie Co-Autorin von „Resonant Games“, einem Buch über Designprinzipien für Lernspiele.

Bildquelle: Kahoot!

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