„Compose or Customize” statt „Build or Buy” Die Renaissance der Individualsoftware

Ein Gastbeitrag von Tino Fliege 5 min Lesedauer

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Weil die Entwicklung von Individualsoftware aufwändig ist, passen viele Unternehmen ihre Prozesse an Standardsoftware an. Der digitale Wettbewerb bedingt aber geradezu die Rückkehr zu maßgeschneiderter Software, was auch in Sachen Einführungsgeschwindigkeit kein Hindernis mehr darstellt.

Einige Geschäftsbereiche und deren Prozesse deckt Software von der Stange sehr gut ab, in anderen eignen sich Eigenentwicklungen besser.
Einige Geschäftsbereiche und deren Prozesse deckt Software von der Stange sehr gut ab, in anderen eignen sich Eigenentwicklungen besser.
(Bild: Firmbee / Pixabay)

Noch vor gut dreißig Jahren waren die Mitarbeiter im Unternehmen die treibende Kraft für Geschäftsabläufe. Sie waren durch strenge Hierarchien organisiert und wurden unterstützt durch lokale IT-Systeme mit sehr begrenztem Funktionsumfang.

Galt es, das Unternehmen auf neue Marktanforderungen hin auszurichten, wurden Lösungen für Change Management eingesetzt, um Organisationsdiagramme neu zu strukturieren, Mitarbeiter umgeschult oder frisches Personal eingestellt. Durchaus wurden hin und wieder auch Änderungen an den bestehenden IT-Systemen durchgeführt, doch die sehr eingeschränkte Anpassbarkeit der Lösungen stellte nicht im Geringsten ein Hindernis für den geschäftlichen Erfolg dar.

Zweierlei hat sich seither geändert: Zum einen setzt sich ein Unternehmen heute strukturell nahezu zu gleichen Teilen aus Mitarbeitern und digitalen Assets zusammen. Diese Assets – seien es Anwendungen oder Daten – sind ebenso zentraler Bestandteil der Unternehmen, wie die Mitarbeiter es sind. Zweitens werden auch die Zyklen immer kürzer, in denen technologische Disruptionen, aggressive Mitbewerber oder neue Marktchancen eine Anpassung oder gar Transformation des Unternehmens erfordern.

Darauf müssen sich heutzutage nicht nur die Mitarbeiter einstellen, sondern auch die unterstützenden digitalen Systeme über die gesamte Organisation hinweg – und das sehr schnell. Ein neuer Status quo, dem Software von der Stange nur schwerlich gerecht werden kann.

Standardsoftware für Standardprozesse

Gerade in der jüngeren Vergangenheit hat sich Standardsoftware als heiliger Gral in den Köpfen von IT-Leitern und Unternehmensverantwortlichen festgesetzt. Warum jedes Mal das Rad neu erfinden, wenn die bestehenden Anforderungen bereits von anderen vollumfänglich gelöst wurden? Und tatsächlich finden sich nahezu für jede Branche und jeden Spezialbereich bewährte Softwareangebote – bis hin zu zahlreichen Nischenmärkten.

Die dahinterstehende Überlegung ist auf den ersten Blick valide: Gerade in Bereichen wie etwa der Buchhaltung finden sich Prozesse, welche Software von der Stange sehr gut abdeckt. Etwas nachträgliche Anpassung mag erforderlich sein, doch im Großen und Ganzen kann der Ablauf genauso gut ausgeführt werden, wie von der Software vorgegeben – wie es ohnehin jeder am Markt tut. Die Mitarbeiter passen sich der Software an, die erworbenen Lösungen laufen innerhalb weniger Wochen oder Monate produktiv.

Software für die DNA

Doch Unternehmen sind wie Schneeflocken – keine zwei sind jemals identisch; und an diesem Punkt stößt Standardsoftware an ihre Grenzen. Was für Prozesse funktioniert, die verhältnismäßig generisch in jedem Unternehmen ablaufen, wird zur Schwierigkeit oder vielleicht sogar zum Risiko für Abläufe, die stark mit dem individuellen Wertschöpfungskern des Unternehmens verbunden sind – sei es Produktentwicklung, Lagerhaltung oder gar Fertigungsprozesse.

In diesen zentralen Bereichen sollte die Software ein nahtloses Abbild des individuellen Geschäftskerns darstellen und dessen DNA zum Ausdruck bringen: genau das, was das Unternehmen einzigartig macht. Mit Software von der Stange kann dies nicht erreicht werden. Denn wie sollen Prozesse den entscheidenden Tick cleverer oder effizienter ablaufen als bei der Konkurrenz mit Lösungen, die auch diese in exakt derselben Weise nutzt?

Das Comeback der Eigenentwicklung

In der heutigen Zeit benötigen Unternehmen maßgeschneiderte Softwarelösungen, die den Prozesskern des Unternehmens passgenau abdecken und das Unternehmen flexibel machen für zunehmende technologische und gesellschaftliche Veränderungen. Immer mehr Unternehmen rücken daher Schritt für Schritt davon ab, die eigenen Prozesse in das Korsett der Software anderer zu zwängen, und entdecken die Eigenentwicklung passgenauer Lösungen für sich wieder.

Was uns zu den Kosten der Entwicklung individueller Software zurückbringt. Auch wenn passgenaue Lösungen in der heutigen Zeit unerlässlich sind – woher sollen Unternehmen die Ressourcen nehmen, die für die Eigenentwicklung erforderlich wären? Welches Unternehmen kann es sich leisten, große Entwicklerteams abzustellen, um Tausende und Abertausende von Codezeilen zu schreiben, wie dies in der Vergangenheit der Fall war?

Der kontinuierliche technologische Fortschritt, der die geforderte Agilität und Wandelbarkeit bei Unternehmen überhaupt erst erforderlich macht, kann gleichzeitig Teil der Lösung sein. Moderne Entwicklungsansätze wie DevOps, agile Entwicklung oder die Nutzung von Low-Code auf Enterprise-Niveau können dazu beitragen, Entwicklungsprozesse deutlich zu beschleunigen.

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Moderne Low-Code-Entwicklungsplattformen beispielsweise bieten Entwicklern vorgefertigte, gleichzeitig jedoch umfassend konfigurier- und individualisierbare Bausteine, aus denen sich benötigte Lösungen zusammensetzen lassen – bei einem deutlich geringeren Zeitaufwand, als dies bei der manuellen Entwicklung der Fall ist. Der daraus resultierende Code kann anschließend bei Bedarf beliebig bearbeitet oder erweitert werden.

Software „Made to Measure“

Entsprechend müssen Entwicklerteams nicht länger bei null beginnen, um eine Anwendung zu entwickeln. Sie können die Vorteile von Cloud-Diensten und Unternehmens-APIs nutzen, um maßgeschneiderte Lösungen deutlich schneller, anpassungsfähiger und kostengünstiger zu erstellen, als dies in der ersten Hochzeit der Individualsoftware der Fall gewesen war.

Vergleichbar ist diese Entwicklung mit einer neuen Herangehensweise an die Fertigung eines Maßanzugs: Damit dieser optimal zum individuellen Körperbau des Kunden passt, wurde klassischerweise vom Schneider Maß genommen und auf dieser Grundlage das Kleidungsstück passgenau angefertigt.

Die Nutzung modularer Bausteine in der Softwareentwicklung entspricht hingegen dem sogenannten „Made to Measure“-Prinzip: der Nutzung vorgefertigter Stoffelemente in unterschiedlichsten Größen und Schnitten, aus denen der Schneider die geeignetsten auswählt und so den passgenauen Anzug zusammensetzt. Selbst wenn anschließend doch noch die Länge der Ärmel oder die Anordnung der Knöpfe leicht angepasst werden muss, wurde die Herstellung des Maßanzugs im Vergleich zur rein manuellen Arbeit deutlich beschleunigt.

Aus „Build or Buy“ wird „Customize or Compose"

Generell hat sich das Dilemma zwischen „Build“ und „Buy“ im Verlauf der letzten Jahre stark weiterentwickelt. Durch Angebote wie Software-as-a-Service hat auch Standardsoftware an Flexibilität und Anpassbarkeit gewonnen. Gleichzeitig beruht die Vorstellung, dass Eigenentwicklungen immer kostspielig und ineffizient sein müssen, auf den Softwareentwicklungsmodellen der Vergangenheit.

Viel mehr als zwischen „Buy“ oder „Build“ müssen sich Unternehmen heute zwischen „Customize“ oder „Compose“ entscheiden. Entweder setzen Unternehmen auf eine Standard-Lösung und investieren Zeit und Geld, sie zumindest weitestmöglich an ihre Bedürfnisse anzupassen. Oder sie erstellen die benötigte Anwendung passgenau selbst.

Tino Fliege
Tino Fliege
(Bild: OutSystems)

Das muss nicht Codezeile für Codezeile geschehen, sondern indem sie auf bewährte Funktionsbausteine zurückgreifen und daraus mit deutlich höherer Effizienz die gewünschte Anwendung zusammenstellen. Durch letzteres eröffnet sich für Unternehmen die Möglichkeit, effizient zur Königsdisziplin Individualsoftware zurückzukehren, um im harten, schnelllebigen Wettbewerb der heutigen Zeit zu bestehen – mit genau dem, was sie einzigartig macht.

* Tino Fliege ist Solution Architect bei OutSystems.

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